Mathematisches Kolloquium zum Thema ``Mathematikunterricht und
Allgemeinbildung''
Am 9.5.96 kam der Bielefelder Mathematiklehrer und
Privatdozent Dr. Hans Werner Heymann nach Bayreuth und referierte im
Rahmen des Mathematischen Kolloquiums zum Thema ``Mathematikunterricht
und Allgemeinbildung''.
Herr Heymann war in die Schlagzeilen geraten, nachdem Journalisten
aus seiner Habilitationsarbeit u.a. die radikale Forderung
``Sieben Jahre Mathematikunterricht sind genug''
herausgelesen hatten.
Entsprechend groß war der Andrang im Hörsaal H 19 der Universität. Es
kamen nicht nur -- wie sonst zumeist üblich -- wenige interessierte
Professoren und Assistenten. Diesmal waren auch viele Lehrer (teilweise
sogar mit nicht-mathematischen Fächerverbindungen) und interessierte
Studenten gekommen, um sich diesen ``Nestbeschmutzer'' der Mathematik --
wie Heymann inzwischen wiederholt bezeichnet wurde -- genauer anzusehen.
Wer reißerische Thesen und Forderungen von Heymann erwartet hatte, wurde
an diesem Nachmittag enttäuscht. Sein Vortrag stand unter dem Motto:
``Verändern statt verkürzen'' -- ``mehr verstehen ist besser als mehr
wissen''. Heymann sieht dabei das Fach Mathematik stets vom Blickwinkel
eines ``fächerübergreifenden Allgemeinbildungskonzepts''. Er untermauert
seine Vorstellungen im wesentlichen mit fünf Thesen, die man zugleich als
Aufgaben eines allgemeinbildenden Mathematikunterrichts auffassen kann.
Zur Verdeutlichung geben wir im folgenden dazu stichpunkthaft
einige Erläuterungen:
These 1: Lebensvorbereitung
Schüler sollen dazu ermuntert werden, im Mathematikunterricht öfter
zu fragen: ``Wozu brauche ich das
eigentlich?'' Wichtiger als das Abarbeiten von Algorithmen (Beispiele:
Termumformungen, Kurvendiskussion) sollte im
Mathematikunterricht das Schätzen, Überschlagen, Übersetzen von
Problemen in ein mathematisches Modell oder Interpretieren von
graphischen Darstellungen sein.
These 2: Stiftung kultureller Kohärenz
Die Mathematik sollte nicht isoliert von der übrigen Kultur dargestellt,
sondern vielmehr an zentralen Ideen ausgerichtet werden.
Heymann spricht in diesem Zusammenhang von `Kernideen', die sich, quasi
wie rote Fäden, durch den Mathematikunterricht ziehen. Solche sind die
Idee der Zahl, des Messens, des funktionalen Zusammenhangs, des räumlichen
Strukturierens, des Algorithmus und des mathematischen Modellierens.
These 3: Weltorientierung
Z. B. durch Sichtbarmachen von Mathematik, die häufig in Alltagssituationen
versteckt aufzufinden ist; Erfahrung mit mathematischen Anwendungen,
Umwelterschließung.
These 4: Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch
Mathematik darf nicht weiterhin das Fach `unverstandenen Lernens'
schlechthin bleiben. Den Schülern sollte genügend Zeit gegeben
werden, um Verstand und Vernunft einzusetzen.
These 5: Veränderung der Unterrichtskultur
Wichtige Punkte hierbei sind unter anderem der richtige Umgang mit
(Schüler-) Fehlern oder die Reflexion über mathematisches Tun. Zudem
sollte den Schülern Raum bleiben für subjektive Betrachtungsweisen und
alternative Deutungen mathematischer Probleme. Auch der spielerische Umgang
mit Mathematik darf nicht zu kurz kommen.
Abschließend konnte man sich als Zuhörer fragen, ob die Thesen Heymanns
eigentlich wirklich so viel Neues beinhalten, denn viele der
angesprochenen Kriterien sollte ein engagierter Lehrer schon immer
erfüllen oder es zumindest soweit wie möglich versuchen. Heymann
spricht in seinem neuen Buch allerdings auch selbst davon,
daß er weder eine grundsätzliche Revolutionierung der Vorstellungen von
Allgemeinbildung noch eine radikale Umgestaltung des Mathematikunterrichts
anstrebt, sondern Anstöße zur Veränderung unbefriedigender Praxis
sucht.
Positiv an der ganzen Diskussion `rund um Heymanns Thesen' ist jedenfalls,
daß der Mathematikunterricht an den Schulen -- wenn auch auf eine
etwas spektakuläre Weise -- wieder stärker ins Gespräch kommt. Auf diese
Weise
können Lehrer neue Impulse bekommen und werden eventuell
dazu angeregt, ihren Unterrichtsstil wieder einmal kritisch zu
überdenken, was nach langen Jahren des Berufsalltags leider nur selten
geschieht.
Jedenfalls konnten sich an diesem Nachmittag -- wie auch die anschließende
lebhafte Diskussion zeigte -- alle, die am Mathematikunterricht
interessiert sind, wertvolle Anregungen holen.